- Dadaismus in der bildenden Kunst: Die »Abschaffung« der Kunst
- Dadaismus in der bildenden Kunst: Die »Abschaffung« der KunstIn Zürich, in der neutralen Schweiz, trafen sich 1915 einige freigeistige, pazifistisch eingestellte Dichter, Maler und Theaterleute, um dem Rationalismus ein anarchistisches Spottlied zu singen. »Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkrieges 1914, gaben wir uns. .. den schönen Künsten hin. Während in der Ferne der Donner der Geschütze grollte, sangen, klebten und dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.« Die elementare Kunst, die Hans Arp, einem der Mitbegründer des Dadaismus, vorschwebte, bestand zunächst aus lautstarken Aktionen: futuristischer Lärmmusik, grotesken Tänze zu afrikanischen Trommeln, unterbrochen durch Nonsens-Gedichte, die simultan rezitiert wurden.Am 5. Februar 1916 eröffnete das »Cabaret Voltaire«, eine bescheidene Kleinkunstbühne in der Spiegelgasse 1 der Züricher Altstadt, mit einem provokativen Programm, das von Arp, Hugo Ball, dessen Frau Emmy Ball-Hennings, Marcel Janco, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck inszeniert wurde. Noch im Gründungsjahr erschien die »Collection Dada«, eine Zeitschrift mit Texten und Pamphleten von Tzara und Huelsenbeck sowie mit Holzschnitten von Janco und Arp. Ab Juli 1917 gab Tzara die Zeitschrift »Dada« heraus, die Arp illustrierte und Julius Heuberger in einer typografisch neuartigen Verteilung der Schriftblöcke druckte; bis Mai 1919 erschienen vier Nummern, mit denen sich der Name »Dada« und die provokativen Manifeste von Tzara in ganz Europa verbreiteten.Obwohl viele Elemente des Kubismus und Futurismus - zum Beispiel die Collage, Geräuschemusik, Pamphlete und Manifeste - im Dadaismus wieder aufgenommen wurden, wehrten sich die Züricher Dadaisten gegen alle künstlerischen Absichtserklärungen. Die professionelle Kunst der Ateliers wurde genauso kategorisch verdammt wie die bürgerliche Moral der in Konventionen erstarrten Gesellschaft: »Kunst wird einschlafen. Kunst-Papageien-Gefasel, ersetzt durch Dada. Kunst muss operiert werden. Kunst ist ein besonderer Anspruch, erwärmt durch Schüchternheit des Blasensystems, Hysterie, im Atelier geboren«, verkündete Tzara. Dass die Kunst jedoch nicht radikal abgeschafft wurde, zeigt 1917 die Gründung der Galerie »Dada«, wo Werke von Arp, Janco, Hans Richter, Alexej von Jawlensky, Heinrich Campendonk und später auch von Paul Klee, Wassily Kandinsky und Giorgio De Chirico gezeigt wurden. Arp erlebte in Zürich sogar seinen künstlerischen Durchbruch: Kandinskys Holzschnitte regten ihn zu seinen berühmten, biomorphen Holzreliefs an. Mit automatistischen Zeichnungen und Collagen begründete Arp eine ganz eigene künstlerische Sprache, die er später in Paris im Kontakt mit der konstruktivistischen Avantgarde erweiterte.Bei Kriegsausbruch hatten sich viele europäische Künstler nach New York geflüchtet, wo sie in der Galerie »291« des Fotografen Alfred Stieglitz ein neues Forum künstlerischer Auseinandersetzung fanden. Als Katalysatoren der New Yorker Kunstszene bildeten Francis Picabia und Marcel Duchamp bald den Kern einer neuen dadaistischen Bewegung. In den Salons von Walter Arensberg trafen sich die aus Europa geflüchteten Künstler, darunter Albert Gleizes, Edgard Varèse, Jean Crotti und Henri-Pierre Roché mit der jungen amerikanischen Avantgarde. Besonders heftig diskutierte man über Duchamps »Großes Glas«, an dem er seit 1915 experimentierte und das er dann 1923 unvollendet ließ, und über seine »Readymades« - Gebrauchsgegenstände, die er dadurch zum Kunstwerk erhob, dass er als Künstler sie ausgewählt und signiert hatte. Picabia hatte ebenfalls seine »klassische« orphistische Phase abgeschlossen und wandte sich despektierlichen Collagebildern zu, welche die Faszination durch Technik und Maschine mit einem Schuss dadistischer Ironie versahen. Seine Dada-Postille »391« hob sich durch den sarkastischen und blasphemischen Ton ihrer Artikel, den aggressiven Stil ihrer Illustrationen und die gewagte Typografie deutlich von den üblichen Publikationen zur modernen Kunst ab. Eine der schillerndsten Figuren des New Yorker Dada war Artur Cravan, der bereits vor dem Krieg in Paris mit polemischen Angriffen gegen die Künstlerschaft in seiner Zeitschrift »Maintenant« Aufsehen und Anfeindung erregt hatte und nun in New York auf Kundgebungen immer wieder den Tod der Kunst und das Leben als Abenteuer beschwor.Nach einem Aufenthalt Picabias in Zürich 1919 erfasste der angriffslustige Charakter des New Yorker Dada auch die Züricher Gruppe, die an ihrem letzten Aktionsabend am 9. April 1919 von aufgebrachten Zuschauern von der Bühne geprügelt wurde. Nach Kriegsende zerstreuten sich die Mitglieder der Züricher Dada-Gruppe; sie gründeten in anderen Städten neue dadaistische Keimzellen. Huelsenbeck lebte seit 1917 wieder in Berlin und vertrat dort seit 1918 zusammen mit Johannes Baader, den Brüdern Wieland und Helmut Herzfeld sowie Walter Mehring eine stark politisch ausgerichtete Dada-Bewegung. Reflektierte die New Yorker Dada-Gruppe eher die Krise der modernen Kunst, zielte Dada Berlin auf die gesellschaftliche Situation in Deutschland nach dem Krieg. Höhepunkte waren die Anti-Kunstveranstaltungen von 1918 und 1920 und die »Internationale Dada-Messe« in Berlin 1920. Ein Merkmal von Berlin-Dada war auch die Flut von Publikationen, die wie Raoul Hausmanns Zeitschrift »Der Dada« nicht selten zum gesellschaftlichen Umsturz aufriefen. Der starke Einfluss der russischen Kunst und Ideologie manifestierte sich auch in den künstlerischen Techniken, den Schrift- und Fotomontagen, die zum wesentlichen Ausdrucksmittel der Berliner Dadaisten wurden.Arp hatte 1919 mit Max Ernst in Köln Kontakt aufgenommen. Zusammen mit dem Dichter Johannes Baargeld gründeten sie hier einen weiteren dadaistischen Stützpunkt und veröffentlichten mehrere kommunistisch orientierte Zeitschriften, etwa »Der Ventilator«. Aber auch die Kunst kam nicht zu kurz: Ernst schuf in dieser Zeit sehr sorgfältig ausgeführte Collagen, die bei ihrer Ausstellung in Paris 1921 das besondere Interesse von André Breton fanden. Arp experimentierte weiterhin mit abstrakten »Konfigurationen« aus Kartonteilen, die er nach den Gesetzen des Zufalls anordnete. Bemerkenswert sind auch die Gruppenexperimente, die »Fatagaga«, anonyme gemeinschaftliche Werke mehrerer Künstler.Ende 1918 gründete Kurt Schwitters in Hannover einen Nebenzweig von Dada, dem er den Namen »Merz« gab, ein Kunstwort, das er einer zerrissenen Annonce der »Commerz- und Handelsbank« entnahm. Unter dieser Bezeichnung zeigte Schwitters seine Collagenbilder aus Alltagsmaterial, Fundstücken und Abfall, die »Merz-Bilder«. Auch dichterisch trat Schwitters in Erscheinung, als er 1920 sein langes Gedicht »Anna Blume« veröffentlichte, eine Parodie auf sentimentale deutsche Lieder, gekennzeichnet durch ein wildes Durcheinander von Sprichwörtern, merkwürdigen Zitaten und Briefstellen. Im folgenden Jahr unternahm er den Versuch, eine »Ursonate« zu schaffen, die nur mithilfe der menschlichen Stimme eine Art primitiver Ursprache wiederherstellen sollte.Um 1920 hatte sich der Schwerpunkt des Dadaismus nach Paris verlagert, wo die Manifestationen von Tzara und der Dichtergruppe um Breton noch zwei Jahre für Aufsehen sorgte. Ernst und Arp setzten ihre Karrieren in Paris fort; auch Duchamp, Picabia und Man Ray hielten sich wiederholt dort auf. Doch der dadaistische Geist hatte bereits einen neuen Weg gefunden: den Surrealismus.Dr. Hajo DüchtingDokumente zum Verständnis der modenen Malerei, herausgegeben von Walter Hess. Bearbeitet von Dieter Rahn. Neuausgabe Reinbek 1995.Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.Richter, Hans: Dada — Kunst und Antikunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Köln 41978.Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.
Universal-Lexikon. 2012.